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BitteBitteJaJa (Ulu Braun & Roland Rauschmeier)
CADAVRES EXQUIS VIVANTS

15. Mai - 4. Juli, 2010

BitteBitteJaJa CADAVRES EXQUIS VIVANTS

Ausstellungsdokumentation auf vimeo

Lebendige Leichen? Die sonst so stolze und eigenwillige Katherine Hepburn blickt den Tränen nah und auf Erlösung harrend auf ihr halb zu Stein gemeißeltes Dasein. Verzaubert dazu, eine Kaffeemaschine, deren brennende Zündschnur nur noch Sekunden bis zur Explosion braucht, in wiederholtem Ritual zu füllen. Franz von Assisi, der mit den Tieren redet, ist hier ein grobschlächtiger Typ, dem der Geifer aus dem Munde rinnt, während er ein kleines goldenes Vögelchen füttert und  sich seine zappelige untere Hälfte abmüht, die Weltkugel in einer Bonbonniere in Bewegung zu halten. Man glaubt ihm die Zärtlichkeit für das zarte Wesen nicht wirklich, diesem Metzgerburschen und ahnt Schlimmes. Oder Felix Mendelson, der zum Christentum konvertierte Ausnahmekomponist, ist hier ein provozierender Halbstarker mit Sonnengott-Haupt und Krebsfüßen. Am heimischen Esstisch fordert er die bürgerliche Farce heraus, indem er die Mutter mit seinem entblößten Genital brüskiert. Dies, wie der Off-Ton suggeriert, um endlich ein eigenes Leben zu beginnen und seine Liebste  – oder Schwester – zu beeindrucken.

Surreal und verwirrend sind sie, diese narrativen Kreationen, die ästhetisch in ganz eigenem Stil mal an Märchen, mal an Monstergeschichten oder Science Fiction erinnern. Was ist los, mit diesen Video-Portraits und ihren bedeutungsvollen Namen wie Erasmus von Rotterdam,  Daphne, Kopernikus oder Marcel Proust? Ulu Braun und Roland Rauschmeier alias BitteBitteJaJa stellen in der Galerie Olaf Stüber eine Serie von Videocollagen aus, die sie Cadavres Exquis Vivants nennen. Braun und Rauschmeier, die beide auch als Einzelkünstler in Erscheinung treten, arbeiten bereits seit 1997 zusammen und haben seither die Methode der Cadavres Exquis für das Videoformat weiterentwickelt. Dabei handelt es sich um eine von den Surrealisten für die Kunst adaptierte kollaborative Methode, bei der mehrere AutorInnen einen Text oder eine Zeichnung entstehen lassen, ohne den Part des Vorgängers zu kennen. Ziel dieser Praxis war es, den Zufall, das Unbewusste und Dissoziative an die Macht zu holen und somit nicht nur herkömmliche Vorstellungen von Kunst, sondern auch die herkömmlichen Vorstellungen von Subjektivität zu unterminieren. Im Fokus stand plötzlich nicht mehr Rationalität und Ausgeglichenheit, sondern das Unpassende und Disparate.

BitteBitteJaJa haben bereits an die 500 Arbeiten als zeichnerische und grafische Collagen produziert. Sie selbst nennen ihre Collagen „exzessive poetische Dramen des Alltags“. Dem entsprechen auch die Quellen des Materials der neueren Videocollagen. Sie basieren auf einem umfangreichen Archiv, dass sich die Künstler über die Jahre angelegt haben. Der Spaß der beiden Künstlern an dem surrealen Spiel des Unbewussten ist der Serie anzumerken. Und da all diese Geschöpfe zu einer kruden Familie gehören, die so auch unsere eigene sein könnte, wird ihr ein Haus gebaut, in dem sich alle – auch die Künstler mit ihren eigenen Familien – nebeneinander eingerichtet haben.

Wie sind sie nun zu lesen, diese „lebenden exquisiten Leichen“ - so die deutsche Übersetzung  der Cadavres exquis vivants? Abgesehen vom widersprüchlichen Titel erscheint fast alles widersprüchlich, verrückt und auseinanderdriftend. Die Portraits bedeutsamer Männer (und weniger Frauen) sind eher Anti-Portraits oder eine Ansammlung von  Freaks, denn eine Ahnengalerie ehrenhafter Menschen. In diesem Sinne sind BitteBitteJaJa ganz dem surrealistischen Geist verpflichtet. Homogene Identitäten werden zugunsten kollektiver und zusammen gebastelter Seinsweisen verschoben, bei denen die herkömmlichen Grenzen nicht mehr stimmen. Alles ist ins Fliessen geraten, häufig fließt irgendwo ein Wasser, die Grenzen zwischen Menschen und Tieren, Chimären und Monstern, Lebendigem und Unbelebtem ist irrelevant geworden. Alles erscheint möglich, und gerade darin im zutiefst paradoxen Sinn des Wortes un/möglich, nämlich empörend,  weil unsere Vorstellung von Normalität verletzend. Subjekt-Sein wird als etwas dargestellt, das mehr ist als die im dualen Verständnis angelegten Körpergrenzen sowie gesellschaftlich sanktionierte Subjektivität.

Betrachten wir nochmals ein Bild, um die tiefe Dissoziation oder Ideenflucht zu erläutern, die BitteBitteJaJa als Methode der Subjektdekonstruktion durchführen. Da ist Kaspar Hauser, ein farbiger Mann, der mit verkrüppeltem Fuß Wäsche bügelt. Im Hintergrund ist ein Wohnzimmer mit vielen Büchern sichtbar, eindeutig der gehobenen Intellektuellenklasse zugehörig. Mit Kaspar Hauser hat dieses Bild zunächst gar nichts zu tun. Bedenken wir jedoch, dass es bei der Geschichte von Kaspar Hauser um die Geschichte einer Menschwerdung geht, darum, wie ein erniedrigtes, zu einem Leben im Kellerloch verdammtes Wesen in die Zivilisation zurückgeholt wird, stammelnd statt sprechend, und wie ihm letztlich diese Mann- und Menschwerdung durch Ermordung verunmöglicht wird, dann kann man hier durchaus eine Entsprechung sehen. Wenn auch eine völlig unpassende, schiefe. Im Bild ist ein farbiger Hausmann in gehobener Umgebung. Unklar ist, ob er der Familienvater oder der Dienstbote ist. Klar ist, dass hier herkömmliche Grenzen von Männlichkeit und Weiblichkeit, Vaterbild und Mutterbild, Familie oder Heimischsein zur Disposition stehen. Vor allem Männlichkeit scheint aus den Fugen geraten. Weder Kasper Hauser noch der Hausmann entsprechen den konventionellen Vorstellungen eines Mannes. Und so geht auch in  Erasmus von Rotterdam etwas daneben. Dieser humanistische Philosoph der Neuzeit ist bei BitteBitteJaJa ein maskierter Wichser mit Leichenfüßen und Fliegen auf einem Pissoir, der trotz harter (Wichs)Arbeit seine Männlichkeit nicht richtig zum Stehen bringt. Jeder und jede in diesen Portraits ist irgendwie degradiert, gefangen und kümmerlich, und doch liegt gerade darin eine Chance. Denn die Bilder strahlen gleichzeitig auch etwas Überbordendes und Heiteres aus, das uns durchaus als Subjekte anspricht, weil sich in den Collagen Angst und Arroganz, Phantasie und Fehlerhaftes, Größenwahn und Unzureichendes die Hand geben. So können wir sie auch als Angebot lesen, uns selbst zu entwerfen, jenseits der herkömmlichen Denkraster, als Mischwesen, die das „Exzessive“  des Lebens zulassen. Denn wir wollen doch leben und keine „lebendigen Leichen“ sein, auch wenn sie noch so „exquisit“ zu sein versprechen.

Anke Hoffmann und Yvonne Volkart
Kuratorinnen Shedhalle Zürich